- hethitische Literatur: Spiegel kultureller Kontakte
- hethitische Literatur: Spiegel kultureller KontakteAaus den Bibliotheken und Archiven Hattusas, der Hauptstadt des Hethiterreiches, etwa 150 km östlich von Ankara gelegen, konnten archäologische Ausgrabungen, die Anfang des 20. Jahrhunderts begannen und immer noch andauern, zahlreiche Texte ans Licht fördern. Das dabei gefundene Material deckt den gesamten Zeitraum der Existenz des hethitischen Staates ab, von knapp vor der Mitte des 2. Jahrtausends bis zum Untergang kurz nach 1200 v. Chr.Annähernd 30 000 Bruchstücke, seltener auch nahezu vollständige Tontafeln, versehen mit der aus Mesopotamien entlehnten Keilschrift, lagern heute in den Museen. Die Hethiter verfügten aber auch über eine gänzlich eigenständige Schrift, die Hieroglyphen eigener Prägung verwendete, in der jedoch nur relativ spärliche Zeugnisse auf Siegeln und Siegelabdrücken sowie einige meist kurz gehaltene Felsinschriften erhalten sind. Die Sprache dieser Texte ist nicht das Hethitische selbst, sondern das damit nah verwandte Luwische, eine indogermanische Sprache, die ursprünglich vorwiegend im Südosten Kleinasiens gesprochen wurde.Von den in Keilschrift überlieferten Texten ist jedoch der größte Teil in Hethitisch. Es gibt aber auch luwische Texte in Keilschrift und einige in Palaisch, einer weiteren indogermanischen Schwestersprache des Hethitischen. Deutlich größer ist die Zahl der meist religiösen Texte in der Sprache der einheimischen Urbevölkerung, dem Hattischen, das heute nur erst in seinen Grundzügen bekannt ist. Und schließlich gibt es Zeugnisse in den großen altorientalischen Sprachen Sumerisch, Akkadisch und Hurritisch. Während das Sumerische Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. keine gesprochene Sprache mehr war, sondern nur noch von gelehrten Schreibern verwendet wurde, hatte das Akkadische als allgemeine Verkehrssprache eine dem Latein des Mittelalters vergleichbare Stellung. Das Hurritische schließlich dürfte ab der Mitte des 15. Jahrhunderts als Umgangssprache neben dem Hethitischen am Hof der Hauptstadt gepflegt worden sein. Trugen in dieser Zeit doch mehrere Könige hurritische Geburtsnamen, sodass man gar von einer hurritischen Dynastie in Hattusa gesprochen hat.Über ein mögliches »literarisches« Publikum können wir wenig sagen. Es dürfte aber nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung die Keilschrift beherrscht haben, die als Schriftsystem weitaus komplizierter war als heutige Alphabetschriften. Entscheidend ist jedoch, dass damit nicht nur das technische Mittel zur Aufzeichnung alltäglicher, primär ökonomischer Vorgänge existierte, sondern vor allem auch eine jahrhundertealte Tradition an Schrifttum und Gelehrsamkeit zusammen mit der Kenntnis der Schrift zu den Hethitern gelangte. Dadurch hatte die hethitische Kultur Anteil an dem, was als die altorientalische Keilschriftkultur bezeichnet wird. Wie diese umfasst die hethitsche Literatur formal und inhaltlich vielfältige, über viele Generationen in den Schreiberschulen immer wieder kopierte Texte: wissenschaftliche Werke, etwa lexikalische Listen, Omen- und Beschwörungssammlungen oder medizinische Abhandlungen, aber auch erzählende Texte.Beeindruckend ist die Geschichtsschreibung der Hethiter, die schon unter Hattusili I., einem der ersten Könige aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, mit einer sprachlich noch sehr knapp gehaltenen, chronologischen Auflistung von Ereignissen (Annalistik) einsetzt, um schließlich etwa 200 Jahre später in der Großreichszeit in einzelnen Werken das Niveau detailreicher, lebendiger Erzählung zu erreichen. Eine eigene epische Literatur entwickelte sich daraus aber nicht. Epische Texte in den hethitischen Archiven gehen ausnahmslos auf zum Teil erheblich ältere babylonische Traditionen zurück.Es sind aber die mythologischen Dichtungen, die den Hauptteil der erzählenden Literatur ausmachen. Eines der wenigen ursprünglich anatolischen Themen ist die Geschichte vom Mond, der vom Himmel fiel, direkt auf den Markt der Stadt Lichzina. Die Stadt selbst ist historisch nicht nachweisbar, vielmehr der Ort, an dem alle hattischen Mythen angesiedelt sind. Aus Wut über das Missgeschick des Mondes schickt der Wettergott ihm Stürme und Regengüsse hinterher, sodass der Mond von Angst und Schrecken gepackt wird. Die für Magie und Heilung zuständige hattische Göttin Kattachziwuri - in der hethitischen Fassung heißt sie Kamrusepa - entdeckt, vom Himmel herabschauend, den Mond und nimmt sich seiner an. Der Schluss der Geschichte ist nicht erhalten, aber aus ihrer Verwendung im Rahmen eines Gewitterrituals lässt sich schließen, dass die Geschichte sowohl die Ursache der für das anatolische Hochland typischen gewaltigen Unwetter erklären als auch den Menschen zeigen sollte, diese auf magisch-rituellem Weg zu bannen.Eine weitere mythologische Erzählung wurde - zusammen mit der Beschreibung eines Festes - in zwei verschiedenen Fassungen aufgezeichnet. Auch hier hatte der Mythos die Funktion einer Begründung des jährlich im Frühjahr zu feiernden Festes, das den hattischen Namen »purulli« trug. Es steht im Zusammenhang mit der immer wiederkehrenden Regeneration der Natur, dem Erwachen der Kräfte der Vegetation nach der Phase der winterlichen Erstarrung, aber auch mit der mythischen Erneuerung der Herrschaft des Königs, dessen Amt letztlich direkt von den Göttern stammt, in deren Auftrag er das Land verwaltet.Beide Fassungen handeln vom Kampf des Wettergottes gegen den Drachen Illujanka, dem es in einem ersten Treffen gelingt, den Wettergott zu besiegen. In der ersten Fassung verspricht die Göttin Inara einem Menschen die Ehe, wenn er dem Wettergott hilft, sich zu rächen. Bedingung ist, dass er nie wieder zu den Menschen zurückkehrt. Und tatsächlich gelingt es einem Mann namens Chupaschija, den Göttern zu helfen. In der zweiten Fassung raubt der Drache Illujanka dem Wettergott Herz und Augen, um ihn auf Dauer zu schwächen. Der unterlegene Wettergott zeugt daraufhin mit der Tochter eines armen Mannes einen Sohn, den er mit der Tochter des Drachen vermählt. Seinem Sohn gibt er zuvor den Auftrag, sein Herz und seine Augen als Heiratsgeschenk von dem Drachen zurückzuerbitten. So erlangt der Wettergott wieder seine alte Stärke und kann in einem zweiten Kampf den Drachen besiegen. Doch fordert auch sein Sohn von ihm den Tod, da er sich nun der Sippe des Drachen zugehörig fühlt.Der am besten in hethitischer Redaktion erhaltene, ursprünglich hurritische Mythenzyklus um den Gott Kumarbi berichtet von der Herrschaft mehrerer Göttergenerationen. Den ursprünglichen Namen Alalu, Anu (= Himmel), Kumarbi und Teschup (= Wettergott) entspricht bei Hesiod die etwas verkürzte Reihe Uranos, Kronos und Zeus. Kronos, der durch die Entmannung seines Vaters Uranos gleichzeitig auch die Trennung von Himmel und Erde vollzogen hat, verschlingt aus Furcht vor einer Prophezeiung seine eigenen Kinder. Doch seine Gattin Rhea hat Zeus vor ihm versteckt. Nachdem Zeus herangewachsen ist, besiegt er in einem gewaltigen Kampf Kronos und die Titanen und wird selbst Götterkönig. Alalu ist im Himmel König; er wird von Anu in einem Kampf besiegt. Anu aber wird seinerseits von Kumarbi gestürzt, der ihn durch das Abbeißen der Geschlechtsteile entmannt. Dadurch hat er sich aber auch selbst geschwängert. Unter großen Schmerzen gebiert er auch den Teschup, von dem er dann gestürzt wird. Ein großer Teil der erhaltenen Erzählung berichtet nun, wie Kumarbi mit verschiedenen, von ihm selbst geschaffenen Helfern versucht, Teschup die Macht wieder zu entreißen. Dies wird sehr detailreich und in plastischer Sprache geschildert. So etwa wenn Teschup in Tränen ausbricht, als man ihm von den gewaltigen Zerstörungen des Drachen Hedammu erzählt oder wenn seine Gemahlin Hepat vor Schreck beinahe vom Dach fällt. Durch einen verführerischen Tanz kann schließlich die nackte Göttin das Ungeheuer aus seinem Lebensbereich, dem Wasser, hervorlocken, es betrunken machen, sodass Teschup Hedammu gefahrlos töten kann.Die Hethiter verdanken ihre Kenntnis fremder Literatur nicht allein den Hurritern. Auch traditionelle mesopotamische Werke, wie das »Gilgamesch-Epos« oder sagenhafte Erzählungen über die Könige der Akkadzeit, waren ihnen bekannt. Insbesondere solche Dichtungen stießen bei den Hethitern auf Interesse, die in einem geographischen Bezug zu Anatolien standen. Von der babylonischen Literatur sind auch einzelne, in ihrer Ausdruckskraft überraschende Gebete beeinflusst. Teilweise sind die Vorlagen noch greifbar, etwa bei einem Text aus mittelhethitischer Zeit, einem Hymnus an die Sonnengottheit, der in seinen religiös-theologischen Aussagen deutlich mesopotamische Vorstellungen erkennen lässt. Andererseits gibt es aber auch Beispiele ausgeprägter Bildhaftigkeit und eigenständiger Gedankenwelt, in deren Zusammenhang man an alttestamentliche Psalmen erinnert hat.Die Bedeutung der hethitischen Literatur erschöpft sich nicht in der Überlieferung einzelner spezifischer Stoffe, sondern ihr kommt vor allem auch eine Vermittlerrolle zwischen der altorientalischen und der früheuropäischen Denkweise und Weltsicht zu.Dr. Jörg Klinger
Universal-Lexikon. 2012.